Rahmenthema

„Präsenz und Virtualität“ –
zum Rahmenthema des 38. Romanistentags

Universität Leipzig | 24.–27. September 2023

Die Corona-Pandemie hat in den letzten beiden Jahren dazu geführt, dass wir in unserem aka­de­mischen Alltag einer ständigen, bisweilen strapaziösen Spannung zwischen (physischer) Prä­senz und (digitaler) Virtua­lität aus­gesetzt waren: Wie hat dieser neuartige Modus unser Verständnis von universitärer Lehre und For­schung verändert? Was bedeutet der Präsenz-Entzug für den wis­sen­schaftlichen Austausch? In welchen „Räumen“ befinden wir uns, wenn wir digital kommu­nizieren? Worin besteht der Mehr­wert von situativer Präsenz? – Auch die nun weltweite Krise des Kriegs in der Ukraine und dessen mediale Vermittlung macht in dramatischer Weise deutlich, was es heißt, „vor Ort“ zu sein; was es bedeutet, wenn Ereignisse real oder medial „gegenwärtig“ sind oder ver­gegenwärtigt wer­den. Der in diesem Kontext zentrale „Medienkrieg“ führt vor Augen, wie sehr Fakten und Wahr­heiten für ihre Über­mittlung auf Medien angewiesen sind, wobei die Realität der Präsenz dadurch sowohl verbürgt als auch manipuliert werden kann.

Als Romanistinnen und Romanisten können und müssen wir uns dem dialektischen Verhältnis von Präsenz und Virtualität mit Blick auf unsere eigenen Gegenstände widmen. Vor einem Jahr­zehnt hatte sich Hans Ulrich Gumbrecht für eine „Philosophie der Präsenz“ (H. U. Gumbrecht, Präsenz, 2012) aus­ge­sprochen, um so das hermeneutische Primat der Geisteswissen­schaften durch Erfah­rungen der „Epi­phanie“ und der Materialität zu konterkarieren. Aus der heutigen, durch globale Krisen ge­prägten Sicht geht es wohl eher darum, das Spannungsverhältnis zwischen Prä­senz und Virtualität auszuloten. Mit Blick auf die kulturellen, literarischen und sprachlichen Ge­gen­­­stände der Roma­nistik kann „Präsenz“ sich auf Strukturen, Diskurse, Artefakte oder Reprä­sen­tationen beziehen, die in der Gegenwart vorliegen, ablaufen, performiert und rezipiert werden. „Virtua­lität“ hingegen kann sich zum einen auf Formen digitaler Speicherung, Verarbeitung oder Inszenierung beziehen, zum anderen aber auch auf Phänomene des Nicht-Präsenten oder des Nicht-Echten. Ge­genüber der Objektivität der Daten und Fakten kann das Virtuelle überdies als der ethisch und epistemologisch signifikante Bereich des Möglichen ver­standen werden (H. Mere­toja, Ethics of Storytelling: Narrative Hermeneutics, History, and the Possible, 2017), als die hinter den aktuellen Er­schei­nungsformen von Sprache, Literatur und Kultur stehende Dimension des Normativ-Regulierenden, des Modellhaften oder der Ideologie. Insofern sind Vergegenwärtigung und Poten­tialität, per­formative Manifestation und virtu­eller Möglichkeitsraum zentral für litera­ri­sche Fiktion und sprachlich-kulturelle Praxis überhaupt.

Ausgehend von diesen Überlegungen ergeben sich zahlreiche Anschlussflächen für die Weiter­ent­wicklung des Leipziger Rahmen­themas in den einzelnen romanistischen Teildisziplinen. Exempla­risch seien hier stich­punktartig die folgenden Anknüpfungspunkte genannt:  

Literatur- und Kulturwissenschaft:

  • Literatur als Technik der Vergegenwärtigung und zugleich als Medium der Potentia­lität/potentiellen Realisierung
  • Materialität der Literatur und deren virtuelle/digitale Aufbereitung oder Verbreitung
  • ‘Präsenz’ als Modus unterschiedlicher Formen von Realismus vs. virtuelle Effekte von Realismus/Präsenz
  • Referentialität vs. multiple/offene Lesarten/Bezüge in der Literatur
  • Präsenz(effekte) im Theater: präsentische Aufführung vs. virtuelle Aufzeichnung von Dramentexten
  • Praktiken des Lesens zwischen Realisierung und Virtualität/Potentialität
  • Präsenz und Potentialität als ethische Realisierungen von Literatur

Sprachwissenschaft:

  • Grammatische Oberflächen und grammatische Tiefenstruktur (z. B. syntaktische Bewegung und Spuren, leere Köpfe, Ellipsen; Nullmorpheme; Allomorphie und Allophonie; latente Laute)
  • Ontischer Status grammatischer Modellierungen; Verhältnis von linguistischer Theorie und Empirie
  • Modulare Grammatik und Schnittstellen: Syntax und Diskurspragmatik; Präsuppositionen und Implikaturen; Linking-Theorie; pragmatische Koerzion; Bedeutungskalkulation in der Wortbildung
  • Tempus und Modus: assertierte vs. virtuelle Propositionen
  • Privative Oppositionen; Markiertheit und Salienz in typologischer, kognitiver, varietätenlinguistischer oder diachroner Sicht
  • Sprachliche Variation in virtuelle Kommunikationsräumen: Nähe/Distanz, Multimo­dalität, Rhetorik in sozialen Netzwerken (z. B. hate speech)
  • Kritische Diskursanalyse: implizite Ideologien und verschleiernde Argumentations­strategien; politischer Diskurs und politische Korrektheit; Genderlinguistik
  • Virtuelle Normen im L2-Erwerb (z. B. von heritage-Sprecher:innen)
  • Präskriptive vs. deskriptive Norm; sprachliche Ideologien; nationalphilologische Idealisierungen sprachräumlicher Uniformität
  • Sprachliche Auto- und Heterorepräsentationen; Identitätsprojektion; perzeptive Varietätenlinguistik
  • Korpuslinguistik: big data und inferenzstatistische Vorhersagbarkeit
  • Material turn und digitale Editionsphilologie

Fachdidaktik:

  • Mediale Transformationen von zu vermittelnden Unterrichtsinhalten (präsent – virtuell), u.a. in Lehrwerken
  • Verarbeitung von Medien- und Medialitätserfahrungen in Texten (z. B. Kinder- und Jugendliteratur), Filmen, BDs
  • literatur- und mediendidaktische Ansätze zur Erarbeitung von fremdsprachigen Texten im weiteren Sinn
  • Transformationen des literacy-Konzepts, z. B. durch veränderte Lese-, Hörverstehens-, Hörsehverstehensstrategien
  • Entwicklung von kulturellen bzw. inter-/transkulturellen Kompetenzen im virtuellen Raum
  • Entwicklung der Mündlichkeit und der Sprachmittlungskompetenzen im virtuellen Raum
  • Mediale Einflüsse auf die Prinzipien des neo-kommunikativen Ansatzes, wie die verstärkte individuelle Förderung, sowie andere Facetten der Inklusion
  • Förderung schulischer und herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit: Präsenz und Synergien von Sprachen im Wissen der Schüler:innen und im Bewusstsein von Lehrkräften

Translationswissenschaft:

  • Translationsdidaktik an der Schnittstelle von Präsenz und Virtualität
  • Eignung und Konsequenzen der verschiedenen Formen von Ferndolmetschen (remote interpreting) in Kommunikationskontexten, bei denen sich die Beteiligten nicht zwangsläufig alle am selben Ort befinden
  • Translationstechnologien und die Schnittelle von Translation und Virtual Reality oder Augmented Reality (z. B. Untertitelung auf VR-Brillen)
  • Folgen der durch die gesellschaftlichen Veränderungen hervorgerufenen neuen Kommunikationsbedürfnisse auf die Translation

Wir freuen uns auf den lebendigen, präsenten wissenschaftlichen Austausch beim 38. Roma­nisten­tag an der Alma Mater Lipsiensis!