Sektion 1

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Sprachliche Variation in den romanischen Kleinsprachen zwischen realen und virtuellen Räumen

Haus 5, Seminarraum 133 | Building 5, Room 133

Sektionsleitung und Kontakt:
Ruth Videsott (Bozen), E-Mail: ruth.videsott@unibz.it
Gabriele Zanello (Udine), E-Mail: gabriele.zanello@uniud.it

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

Variation betrifft unterschiedliche Dimensionen von Sprache, aus soziolinguistischer Sicht insbesondere den Sprachgebrauch (cf. z.B. Auer et al. 2010). Die sozio­lin­guis­tische Beschreibung von sprachlicher Variation als Gegenpart zur normativen stellt gerade bei Minderheitensprachen im Spannungsfeld zwischen Norm, wissen­schaft­lichem Kontext und sprachlicher Realität in der Sprachgemeinschaft immer wieder eine Her­aus­for­de­rung dar.

Der schnelle Übergang in die virtuelle Welt – beschleunigt durch die epidemiologische Si­tuation der letzten zwei Jahre – hat auch das Verhältnis zwischen Norm und sprach­licher Variation geprägt: Minderheitensprachen haben Zugänge zu neuen Kanälen und sozialen Medien erhalten und haben ihr Ausbreitungsspektrum zu­min­dest virtuell er­weitert. Dazu sind empirische Daten ein dringendes Desiderat.

Ein solcher Wandel ermöglicht und erleichtert einerseits einen Übergang von der L-Ebene in die H-Ebene in vielen Bereichen für Sprachen, die bisher in spezifischen Domänen kaum präsent waren (cf. z.B. Ferguson 1959/1972; Dal Negro/Iannàccaro 2007). Dies wirkt sich wiederum auf den Ausbauprozess einer kleinen Sprache aus, wobei dadurch auch Fragen der Standardisierung sowie des Abstands aufgegriffen und neu definiert werden können. Grundsätzlich sind Minderheitensprachen in erster Linie gesprochene Sprachen, deren Verschriftung und Kodifizierung auf dem syn­chro­nen System beruhen – im Gegensatz zu den großen Sprachen, die stärker auf die dia­chrone Achse ausgerichtet sind (Videsott 2011). Gerade während der Nor­mie­rung solcher Kleinsprachen können die vielen orthografischen Umstrukturierungen, die sie in diesem Prozess erfahren, zudem die Kluft zwischen gesprochener und ge­schrie­bener Sprache vergrößern (cf. u.a. Katten­busch 1994; Zanello 2021).

Auf der anderen Seite erfordert die Verwendung der Sprache in unterschiedlichen – vir­tuellen und realen – Räumen und neuen Medien auch neue Beschreibungsmodelle der Sprache selbst, wenn man eben die diatopische, diaphasische, diastratische und dia­me­sische Variation mitberücksichtigt (cf. Coseriu 1971). So kann man davon ausgehen, dass bei­spielsweise eines der markantesten Merkmale von Minder­heiten­sprachen (und von Sprache generell) in digitalen Netzwerken die relativ starke Nähe zur gesprochenen Spra­che ist („Nähesprache“ in Koch/Oesterreicher 1985; 2001) (cf. u.a. Videsott/Fiorentini 2020). Zudem zeigen gerade die neuen Kom­muni­kations­kanäle, dass sich auch die kom­mu­nikativen Handlungsmuster durch den digitalen Sprach­gebrauch im steten Wandel befinden. Durch die eher nähesprachliche Verwendung einer Min­der­hei­ten­spra­che in vir­tu­ellen Räumen könnte auch das Pro­blem des Selektionsprozesses (Haugen 1966) und der Akzeptanz institutionell sele­gierter, von den Sprach­be­nut­zer:in­nen unter Umständen als künstlich empfun­dener Normen neu verdeutlicht werden. Somit wird wo­möglich der Implementierungs­erfolg einer Standardvarietät geschwächt, weil sich Schrei­ber:innen und Spre­cher:innen im virtuellen Raum ihre eigenen, an die klein­räumig ge­spro­chenen Varie­täten an­ge­lehn­ten Normen schaffen. 

Sprachliche Variation spielt ausgehend von ihrem Gebrauch somit eine relevante Rolle auch in Normierungsfragen und wird vermehrt ebenfalls in der Schriftlichkeit sichtbar. Es geht demnach um die „authentische Sprache“ (Pusch/Raible 2002: 1), sprich die Spra­che der Sprecher:innen in verschiedenen Verwendungsbereichen.

Der schnelle Übergang von Präsenz- zur Onlinekommunikation hat neben den lin­guis­ti­schen und soziolinguistischen Faktoren auch Fragen der Sprachvermittlung und Sprach­didaktik aufgeworfen. Normierungs- und Standardisierungsprozesse ver­stär­ken in die­sem Kontext die Debatte rund um die Beziehung zwischen Norm und sprach­licher Va­ria­tion, gerade wenn diese Überlegungen die Sprachdidaktik und die dafür vor­ge­sehenen Instrumente betreffen (Henning 2009; Dell’Aquila/Iannàccaro 2004).

Die Normierung einer Minderheitensprache setzt in jedem Fall voraus, dass ein Sprach­modell etabliert wird, welches zum Standard für die Sprachgemeinschaft wird. Das heißt im Hinblick auf die theoretischen Grundüberlegungen der Sprachplanung: Ausbau und Kodifizierung einer Sprache, die die Sprachgemeinschaft als korrekt akzeptiert, sowie die tatsächliche Verwendung der Sprache durch die Sprecher:innen. In diesem Sinne haben gerade Sprach- und Kulturinstitutionen und die Schule eine fundamentale Vermittlungs­rolle.

Ausgehend von diesen Überlegungen verfolgt die Sektion das Ziel, linguistischen, so­zio­linguistischen sowie sprachdidaktischen Themenschwerpunkten von Minder­heiten­spra­chen in der Romania im Hinblick auf das dichotomische Verhältnis zwischen Norm und sprachlicher Variation nachzugehen.

Hierfür wird um die Einreichung von Beiträgen mit unter anderem, aber nicht aus­schließ­lich folgenden Schwerpunkten gebeten:

Mögliche linguistische Fragestellungen und Schwerpunkte:

  • Morphosyntaktische und syntaktische Variationsprozesse
  • Gesprochene vs. geschriebene Sprache in neuen und traditionellen Medien
  • Normierung und Standardisierung von Minderheitensprachen
  • Probleme der orthographischen Kodifizierung von Minderheitensprachen
  • Prozesse des Ausbaus innerhalb der Sprachentwicklung von Min­der­heiten­spra­chen

Mögliche soziolinguistische Fragestellungen und Schwerpunkte:

  • Digitale Sprache(n) in sozialen Netzwerken
  • Sprachpolitische Erfahrungen und Herausforderungen
  • Sprachkontakt in der Schriftlichkeit und Mündlichkeit
  • Spracheinstellungen, Sprachbewusstsein und Sprachrezeption in mehr­spra­chi­gen Kontexten

Mögliche sprachdidaktische Fragestellungen und Schwerpunkte:

  • Erst- und Zweitspracherwerb in Kontexten von Minderheitensprachen
  • Erwerb von mehreren Sprachen
  • Normative vs. sprachvariationelle Diskurse in der Sprachdidaktik
  • Didaktische Herausforderungen in Migrationskontexten
  • Sprachkompetenzen der Lehrkräfte bei der Vermittlung von Minderheiten­spra­chen
  • Fragen zur Sprachproduktion und -performanz von Schüler:innen

Abstracts für Vorträge können in allen romanischen Sprachen oder auf Deutsch ver­fasst sein.

Bibliographie

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