Negative Virtualität: Über eine kulturtheoretische Figur in den Amerikas
Haus 3, Seminarraum 125 | Building 3, Room 125
Sektionsleitung und Kontakt:
Ángela Calderón Villarino (Leipzig), E-Mail: angela.calderon@uni-leipzig.de
Pablo Valdivia (Frankfurt/Oder), E-Mail: valdivia@europa-uni.de
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Abstracts
Zeitplan
Frank B. Wilderson III entwickelt in seinem Werk Afropessimismus (2021) eine schwarze Personen konstitutiv auslöschende Ontologie, deren Urgrund eine (Anti-)Phänomenologie des Schwarzen bildet: „Bei ‚Anti-Blackness‘ geht es um blanken Terror vor der Präsenz des schwarzen Körpers, der dem kollektiven Unbewussten eingewebt ist.“ (FAZ, 05.07.2020) Allein auf Grundlage der physischen Präsenz von Schwarzen und ihrer gleichzeitigen symbolischen Auslöschung sei es möglich, das Wort ‚human‘ mit Bedeutung zu füllen. Im Gegensatz zu anderen Minderheiten jedoch, so Wilderson, ist ihre Auslöschung eine, die nicht zweckgebunden ist, sondern – und zwar gerade, weil es sich um eine unmotivierte Gewalt handelt – um des Menschseins willen vollzogen wird. Das Menschsein versichere sich so seiner Ungebundenheit. Die verbrauchende Auslöschung schwarzer Körper ist deshalb eine fortwährend zu leistende Auslöschung.
Für das übergeordnete Tagungsthema sind Wildersons Überlegungen dahingehend einschlägig, als sie ein radikales und erweitertes Verständnis von (negativer) Virtualität einfordern. Denn bemerkenswert ist, dass Wilderson diese letale Para-Dialektik anhand der Präsenz von Schwarzen formuliert, deren Korrelat wiederum ein unsichtbarer Agent ist, der fortwährend am Werk ist: „Es gibt keine Welt ohne Schwarze, und doch gibt es keine Schwarzen, die in der Welt sind.“ (Afropessimismus, 52) Es geht folglich um nichts weniger als die Präsenz einer negativen und negativ bleibenden Virtualität. Damit ist eine der zentralen Annahmen der strukturalen Theorie, wonach mit jedem Paradigma virtuell auch alle anderen Optionen als potentiell realisierbare zugegen sind (Jakobson), in Frage gestellt. Es gilt – und darin schließt diese Sektion an die jüngeren Debatten zu Agambens Begriff der Potentialität an und geht auch darüber hinaus – die Präsenz einer negativen Virtualität zu denken, die jener (positiven) Virtualität der Potentialität zugrunde liegt, aber selbst nicht positiv wird.
So singulär diese negative Virtualität bei Wilderson formuliert wird, lässt sich – ohne damit die Singularität schwarzer Erfahrung in Frage zu stellen – diese Denkfigur auch in anderen Kontexten und in unterschiedlichen Abstufungen wiederfinden. Mit dem argentinischen Philosophen Enrique Dussel etwa lässt sie sich als eine besondere Form der Exteriorität umschreiben, sofern diese kein implizites Prinzip ist, nicht Folge des hegemonialen Antagonismus (Gramsci), sondern in der exkludierenden und vernichtenden Positivität der kolonialen Moderne stets aufs Neue im Sinne eines absoluten Ausschlusses reproduziert wird. Die Arbeitsthese der Sektion lautet, dass Wilderson mit seinem Werk eine der radikalsten und pointiertesten Manifestationen einer kritischen Denkfigur vorlegt, die in den Amerikas zumindest in Ansätzen schon mehrfach angesichts der kolonialen Erfahrung thematisch geworden ist.
In der Sektion soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern eine erweiterte Perspektive auf den gesamten amerikanischen Kontinent einen in sich sehr differenten, aber zumindest in einigen Aspekten strukturanalogen Problemkontext zu erkennen gibt. Gemeinsame Fluchtlinie ist die Frage, ob die kolonialen Gesellschaften der Amerikas sich dadurch konstituiert haben, dass sie immer auch eine Gruppe hervorbringen, die zu diesen Gesellschaften nur durch die Tatsache der Exklusion relationiert sind. Das Ziel ist deshalb nicht eine Homogenisierung der unterschiedlichen Manifestationen dieser Grundthese, sondern eine Konstellierung von sehr unterschiedlichen kritischen Ansätzen. Auffällig ist in jedem Falle, dass im amerikanischen Kontinent auch andere Theoretikerinnen und Theoretiker zu ähnlichen Entwürfen gelangen, wenn sie die koloniale Erfahrung aus Sicht der sodann marginalisierten Gruppen bedenken, sodass entlang des Kontinents auch auf paradigmatische Parallelen hinzuweisen ist.
Ein schlagendes Beispiel mag das Leben, Denken und Schreiben an und in der Grenze darstellen, das Gloria Anzaldúa mit Borderlands/La Frontera (1987) praktiziert. Ihre Schreibpraxis trägt jeder sprachlichen Realisierung eine Form negative Virtualität ein, sofern sie als Artikulation von und aus der Grenze immer schon ein konstitutives Element verfehlt. Auf diese Ausstreichung verweist die Chicana-Autorin mit einem beständigen Übersetzungsprozess, der gleichermaßen semiotisch und physisch zu verstehen ist und der mit dem Bild der klaffenden Wunde assoziiert ist. Die Übersetzung ist nie volle Präsenz. Octavio Paz geht in eine ähnliche Richtung, wenn er für den mexikanischen (und auch lateinamerikanischen) Sprechenden den Gedanken einer ‚verniemandenden Sprache‘ (ningunear) entwickelt: Im Modus eines formalisierten Sprechens werde der Mexikaner vom Jemand zum Niemand; ein eigentlicher Selbstausdruck steht ihm damit nicht zur Verfügung. Auch diese Verniemandung ist jedoch im Sinne einer negativen Virtualität ständig im Sprechen dieses Jemanden präsent; Paz bezeichnet sie als eine „immer gegenwärtige Abwesenheit“ („Ninguno está presente siempre“).
Eine weitere und dezidiert makrotheoretische Perspektive auf die Figur der negativen Virtualität findet sich auch in der Konzeption der Kolonialität der Macht, die der peruanische Soziologe Aníbal Quijano entfaltet. Dieser heute breit rezipierte Begriff benennt bei Quijano nicht nur eine rassifizierte Ordnung der kapitalistisch-kolonialen Ökonomie, sondern auch eine Auslöschung der indigenen Kulturen aus dem, was Geschichte ist, und auch ihre Formen der Wissensproduktion. Die lateinamerikanischen Kulturen sind für Quijano einerseits Manifestationen dieser vernichtenden Logik. Andererseits zeichnet sie aus, just aufgrund dieser virtuellen Negativität, die Möglichkeit einer Neukonfiguration der kolonialen Moderne zu eröffnen: Erforderlich ist, dass sich diese ausgeschlossenen anderen der Matrix der kolonialen Macht insgesamt entziehen. Deshalb stellt das Projekt einer Dekolonisation nicht nur eine politische Forderung dar, sondern meint ebenso ein Heraustreten aus jener negativen Virtualität des lateinamerikanischen Selbst: „Es tiempo, en fin, de dejar de ser lo que no somos.“
Obgleich die Fragestellung auf den amerikanischen Nord- und Südkontinent hin zugespitzt wurde, so ist damit keine Reduzierung auf Theoretikerinnen und Theoretiker dieses Raums beabsichtigt. Wir sind davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen Themenkomplex handelt, der strukturanalog in anderen Räumen der kolonisierten Romania vorzufinden ist. Die Zentrierung auf die Amerikas gründet lediglich auf der Vermutung, dass die skizzierte Problematik sich im amerikanischen Raum sehr deutlich kristallisiert. Ausdrücklich erwünscht sind aber auch Beiträge, die gleichwohl aus anderen Literaturen, Theorien und Kulturen der Romania stammen. Vor dem skizzierten Hintergrund möchte die Sektion daher die gesamtromanistische Philologie daraufhin befragen, ob und inwiefern literarische, essayistische oder theoretische Texte, insbesondere der Amerikas, an diesem Projekt einer Überwindung dieser negativen Virtualität partizipieren. Und wenn dem so ist, so wäre danach zu fragen: Welcher ist ihr Status? Weiterführende Fragen für die Perspektivierung dieser Problematik wären demnach auch:
- Wie können literaturwissenschaftliche Lektüre dem in diesen theoretischen Texten formulierten kritischen Impuls entsprechen?
- Welchen Status hat die (amerikanische) Literaturwissenschaft insgesamt, wenn sie diese Problemstellung als konstitutive Problemstellung der Amerikas anerkennt? Und wie müsste eine philologische Praxis konfiguriert sein, die es möglich macht, diesen kritischen Einsätzen zu entsprechen?
- Wie artikuliert sich die hier umschriebene negative Virtualität bzw. Exteriorität in Texten und Medien der Amerikas?
- Inwiefern realisieren und inszenieren Texte und Medien selbst eine solche Kippfigur aus der rein negativen Virtualität hin zu einer Virtualität der Potentialität?
Bibliographie
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Anzaldúa, Gloria: Borderlands/La Frontera, San Francisco: Aunt Lute Books 2012 [1987].
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