Sektion 21

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Präsenz des Buches, Virtualität der Lektüre: Kinder- und Jugendliteratur im romanischen Fremdsprachenunterricht

Haus 5, Seminarraum 143 | Building 5, Room 143

Sektionsleitung und Kontakt:
Ornella Kraemer (Innsbruck), E-Mail: ornella.kraemer@uibk.ac.at
Roland Ißler (Frankfurt a.M./Bonn), E-Mail: issler@em.uni-frankfurt.de

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Abstracts
Zeitplan

Ungeachtet veränderter Grundbedingungen des Lernens und Lehrens an Schulen und Hoch­­schulen zählt das Lesen nach wie vor zu den unbestrittenen Grundfertigkeiten von Sprachnutzern; auf allen Niveaustufen ist das Leseverstehen ein basales Bildungsziel des fremdsprachlichen Unterrichts geblieben. Das funktionalistisch motivierte Training di­ver­ser Lesestrategien und -stile mit dem kurzfristigen Ziel der Informationsentnahme lässt dabei oftmals die ästhetische Dimension von Texten außer Acht, wie sie anhand von literarischen Texten geschult werden kann. Mit dem Bewusstsein für deren besondere Bildungsrelevanz – durchaus nicht nur im Zusammenhang mit interkulturellen Lern­pro­zessen – ist in den letzten Jahren die Bedeutung von Kinder- und Jugendliteratur (KJL) im Fremd­sprachenunterricht gewachsen (vgl. Bedford/Albright 2011; Beseghi/Grilli 2011; Cam­pagnaro 2017b; Allasia 2021). Auch jenseits der Grundschule stellt die KJL einen bedeutenden Fundus zum Erlernen der Sprache, Literatur und Kultur eines Ziel­spra­chenlandes dar und wird nicht zuletzt aufgrund ihrer motivischen Vertrautheit, ihrer sprach­lichen Zugänglichkeit und authentischen Ausdruckskraft in den Sekundarstufen I und II sowie in der universitären Lehrerbildung eingesetzt.

Kinder- und Jugendliteratur trotzt so dem vielbeklagten Bedeutungsverlust von Literatur; der Buchmarkt für KJL ist heute so diversifiziert wie niemals zuvor. Gerade die breite Ver­fügbarkeit einer Fülle kinder- und jugendliterarischer Texte in den romanischen Schul­sprachen setzt jedoch eine gute Kenntnis und Auswahl voraus, in der nicht nur klassische und kanonische Autoren, sondern auch zeitgenössische Schriftsteller:innen sowie The­men von aktueller gesellschaftlicher Brisanz ihren Platz finden können und die zudem für bestimmte Zielgruppen verantwortlich getroffen werden muss.

Während die Überzeugung, dass die Beschäftigung mit KJL im universitären Kontext einen gewinnbringenden Zugang zu motivierenden Lehr- und Lernprozessen darstellt, vor al­lem in der Deutsch- und Englischdidaktik präsent ist, die jeweils vielversprechende und originelle Ansätze für den Einsatz von KJL im schulischen Unterricht vorschlagen (vgl. etwa Kramer Moeller/Meyer 1995; Tosi/Petrina 2011; Bland/Lütge 2013; O’Sulli­van/Rösler 2013; Short/Day/Schroeder 2016), hat sich der Bedarf tragfähiger Konzepte seit der Erschließung des Forschungsbereichs für die Romanistik (vgl. Scherer/Ißler 2014) eher noch verstärkt. Sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Fremd­spra­­chendidaktik wurde das Thema in der Folge nur punktuell und marginal beleuchtet (vgl. Campagnaro 2017a sowie Campagnaro/Daly/Short 2021) und, so unsere Über­zeu­gung, vor allem nicht systematisch im schulischen bzw. universitären Unterricht auf­ge­griffen. Die akademische Beschäftigung mit KJL, insbesondere aber ihre kompetente li­te­raturdidaktische Einbettung auf literaturwissenschaftlicher Grundlage, stellt mithin ge­rade in der Romanistik bei wachsendem Bedarf weiterhin ein wichtiges For­schungs­de­si­derat dar.

Die Sektion fokussiert den Einsatz der KJL im Fremdsprachenunterricht auf ver­schiede­nen Ebenen. Nachdem das heutige primäre Unterhaltungsmedium nicht länger das Buch ist und Kinder nicht mehr zwangsläufig zuhause mit dem Lesen sozialisiert werden, kommt dem Schulunterricht (nicht zuletzt in der Fremdsprache) umso dringlicher die Auf­gabe zu, das Lesen gezielt zu lehren und die literarische und interkulturelle Wahr­neh­mung zu schulen. Daraus ergibt sich auf universitärer Ebene die Notwendigkeit einer Stärkung der Literaturdidaktik in der Lehrerbildung. Gerade im frühen Fremd­spra­chen­unterricht besteht für die Arbeit mit einer guten Auswahl literarischer Texte großer Bedarf. Für die Leseförderung insbesondere in den romanischen Sprachen fehlen mo­ti­vie­rende bildungsrelevante Konzepte, die dem spezifisch fremdsprachendidaktischen Leh­­ren und Lernen gerecht werden und dennoch nicht auf der Oberfläche der Texte ver­harren.

Mit der Sektion ist der Wunsch nach einer Rückkehr zum Lesen verbunden, dessen Attrak­tivität für junge und potentielle Leser_innen mittels wertvoller kinder- und jugend­li­te­rarischer Texte durchaus gesteigert werden kann – denn als Erwachsener liest nur, wer schon vorher Freude daran hatte (vgl. etwa Campagnaro 2015). Als Forschungssektion wendet sie sich an die universitäre und akademische Gemeinschaft, um neue didaktische Konzepte und Programme für Fremdsprachenlernende zu entwickeln und mit dem doppelten Ziel zu erarbeiten, das Erlernen einer romanischen Fremdsprache mit der (Wieder-)Entdeckung mehr oder weniger kanonischer Texte der Literatur eines roma­ni­schen Zielsprachenlandes sinnvoll zu verbinden.

Da sich im Laufe der Zeit Lektüre- und Rezeptionsstrategien stark verändert haben, möch­te die Sektion den Blick auch auf eine multimedial ausgerichtete KJL richten und jenseits der traditionellen Lektüre auch die Rezeption von Comics, Graphic Novels, Bilderbüchern, Reimen und Gedichten, Liedern, Hörspielen und Podcasts etc. untersuchen. Diese und weitere mediale Darbietungsformen erleichtern das Erlernen einer Fremdsprache be­sonders hinsichtlich komplexer Inhalte (vgl. z.B. Johnson/Mathis/Short 2017) durch eine zugänglichere (Bild-)Sprache, verlangen aber auch veränderte Wege der Wahr­nehmung und Annäherung, Analyse und Vermittlung. Entsprechend dem erweiterten Literatur­be­griff aktueller Lehrpläne, also jenseits der Höhenkammliteratur und der Kanones – ohne jedoch diese ganz aufzugeben –, soll auch gezielt die didaktische Auf­bereitung von me­dia­len Mischformen und Adaptionen von ‚Klassikern‘ Berücksichtigung finden. Dies bietet darüber hinaus auch Möglichkeiten, die Ästhetik von Texten neu zu erleben und zu be­werten (vgl. z.B. García-González/Deszcz-Tryhubczak 2020 sowie Daly/Forbes 2021).

Die Sektion möchte theoretische, unterrichtspraktische und methodische Aspekte ge­winn­­­bringend miteinander verzahnen und den wichtigen interinstitutionellen Dialog zwischen diesen verschiedenen Perspektiven und Herangehensweisen in Gang setzen. Mit Blick auf die universitäre Lehrerbildung sollen hochschuldidaktische Impulse gesetzt und zukünftige Lehrpersonen im Austausch mit Kolleg_innen anderer Sprachen und Dis­zi­pli­nen durch neue Ideen gestärkt werden (vgl. Ißler/Kaenders/Stomporowski 2022).

Im Rahmen der Sektion sollen z.B. folgende Aspekte eine nähere Betrachtung erfahren:

  • phantasievoller, bildungsrelevanter Umgang mit Klassikern der KJL (z.B. Fort­set­zung, Parodie, Medienwechsel)
  • textzentrierte Konzepte der Leseförderung unter Berücksichtigung des spezi­fi­schen fremdsprachendidaktischen Bedarfs
  • Erweiterung des Spektrums der Lesestrategien um hör­ver­ste­hens­zentrierte An­sätze sowie Motivation zur schriftlichen Textproduktion
  • aktivierende kreative und handlungsorientierte Ansätze der Literaturdidaktik, welche die KJL in verschiedenen medialen Darbietungsformen einbeziehen: Bücher, Comics, Graphic Novels, Reime, Lieder, Podcasts etc.
  • die ästhetisch-pragmatische Abwägung und kritische Reflexion über den Bil­dungs­gehalt von Adaptionen und didaktisierten Ausgaben kinder- und jugend­literarischer Texte für die Lektüre im fremdsprachlichen Unterricht
  • innovative Ideen für die altersgerechte Adaption von KJL im Fremd­spra­chen­unterricht
  • angemessene gattungsbezogene Rezeptionsweisen (szenisch, rezitatorisch, nar­ra­tiv, gestisch etc.)
  • autoreferentielle Texte der KJL, die eine formorientierte Textrezeption er­mög­lichen
  • ästhetische, kunstpädagogische und musikalische Zugänge zu kinder- und jugend­literarischen Texten
  • Figuren der französischen, italienischen und spanischen Kinder- und Jugend­buch­kultur und ihre Transformationen in Buch und Medienverbund
  • nationale und europäische Identität und Erinnerungskultur in der KJL
  • romanische Spezifika und interkulturelle Begegnungen in Texten der KJL
  • historische und kulturgeschichtliche Themen und Fragestellungen in der KJL
  • transkulturelle Entgrenzungen und Reflexionen in der KJL
  • Tabuthemen (Tod, Krankheit etc.) in der KJL (und ihre kulturelle Spezifizität)
  • Umgang mit Gender- und Diversitätsaspekten in KJL
  • übersinnliche und übernatürliche Phänomene in der KJL und ihre Darstellung in verschiedenen Medien
  • das Potential von Übersetzungen kinder- und jugendliterarischer Werke für mehrsprachigkeitsorientierte Unterrichtsarrangements

Sektionssprachen sind Französisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Englisch.

Bibliographie

Allasia, C. (2021). Balocchi di Carta. Percorsi di letteratura per ragazzi. Novara: Interlinea.

Bedford, A. W., & Albright, L. K. (2011). A master class in children’s literature. Trends and issues in an evolving field. Urbana (Illinois): National Council of Teachers of English.

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