Sektion 3

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NULL in Morphologie und Syntax: Präsenz oder Nicht-Präsenz?

Haus 1, Raum T1006 (Turm) | Building 1, Room T1006 (tower)

Sektionsleitung und Kontakt:
Peter Herbeck (Wien/Wuppertal), E-Mail: herbeck@uni-wuppertal.de
Natascha Pomino (Wuppertal), E-Mail: pomino@uni-wuppertal.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

Nullelemente werden in verschiedenen Theorien sowohl in der Morphologie als auch in der Syntax als Analysebausteine verwendet, wobei seit jeher diskutiert wird, ob die strukturelle Präsenz eines phonologisch leeren Elements angenommen werden muss (= Null), oder ob sich die entsprechenden Phänomene durch die Nicht-Präsenz von Ele­­men­ten auszeichnet (= Nichts). Im Bereich der generativen Syntax wird z.B. seit Chomsky (1981/1982) angenommen, dass die syntaktische Subjektposition in ver­schie­denen Kon­fi­gurationen projiziert wird, auch wenn sie keine phonologische Ent­sprechung hat (pro in (1a)). Weitere leere Kategorien sind das obligatorisch leere PRO in Kon­troll­in­finitiven (cf. (1b)) und Spuren, die als phonetisch leere Merkmals­bündel nach Bewe­gungs­ope­rationen verstanden werden (cf. (1c)). Beispiele aus dem Bereich der Morphologie sind für das Spanische unter (2) aufgeführt: (2a) zeigt den stark um­strit­tenen Fall eines Null­mor­phems für TAM-[Präs.Ind.], während (2b–c) Fälle von Null­allo­morphen darstellen.

(1)
a. pro como una manzana 
b. Phileas Fogg cree [PRO llegar tarde a su cita]
c. Pedroi parece [ti tener razon]

(2)
a. com-e-ØTAM-mos
b. lunes-ØPL
c. razon-ØN→V-a-r

Die Annahme solcher Nullelemente wird allerdings kontrovers diskutiert, und es haben sich drei grobe Theorieansätze herausgebildet: (i) Theorien, die Nullelemente „unein­ge­schränkt“ erlauben (z.B. Item-and-Arrangement), (ii) Theorien, die Nullelemente nur unter eingeschränkten Bedingungen erlauben (cf. Mel′čuk 2002 für mögliche Be­schrän­­kungen), und (iii) Theorien, die keine Nullelemente dulden (z.B. Natürliche Mor­pho­logie; Dressler et al. 1987). Die Verwendung von Null ist also stark theorieabhängig (cf. Dahl & Fábregas 2018), und es mangelt nicht an alternativen Analysen zu den Beispielen in (1)–(2).

Die Nullelemente in (1) scheinen zunächst hinreichend motiviert zu sein, da sie auf Eigen­­schaften des (morpho)syntaktischen Kontextes (z.B. Finitheit) und der syn­tak­tischen Ana­lyseebene (basisgeneriert vs. deriviert) zurückzuführen sind. Allerdings besteht auch hier kein Konsens darüber, inwieweit diese leeren Kategorien präsent sind und auf wel­cher Analyseebene sie legitimiert werden (vgl. Borer 1989; Alexiadou & Anagnos­topoulou 1998; Herbeck 2015). In verschiedenen Ansätzen zu Null­sub­jekt­sprachen wird z.B. angenommen, dass pro aus dem Lexikon in die Syntax projiziert wird, wo es formal li­zenziert und der referentielle Gehalt identifiziert werden muss (Rizzi 1986). Während beides für leere Subjekte in romanischen Sprachen wie Ita­lie­nisch, Katalanisch und Spa­nisch durch starke, pronominale Kongruenzmorphologie ge­schieht, werden Null­ob­jekte zwar lizenziert, aber nicht durch Kongruenz identifiziert, sodass zusätzliche An­nah­men vonnöten sind. Empirische Evidenz für ein leeres Sub­jekt­pronomen liefern auf den ersten Blick interpretative Unterschiede zwischen pro und expliziten Pronomina (Bin­dung, Belebtheit, Koreferenz; vgl. Montalbetti 1984). Null kann jedoch auch in diesen Fällen als PF-Phänomen (Holmberg 2005) oder als ein Phänomen in der post­syn­tak­tischen mor­pho­logischen Komponente (Neeleman & Szen­drői 2007) analysiert werden. Ferner be­steht die Möglichkeit, dass die dem leeren Subjektpronomen zugesprochene Funk­tion durch andere Elemente innerhalb der Konfiguration erfüllt werden (Kon­gruenz­mor­pho­logie, Nulltopik etc.), Null also gar nicht präsent ist.

Ähnlich verhält es sich mit den morphologischen Beispielen. So kann man die Plural­form von sp. lunes wie in (2b) mit einem Nullallomorph analysieren, man könnte aber auch da­für argumentieren, dass lunes ein Pluralsuffix erhält, das dann anschließend aus (morpho)phonologischen Gründen wieder getilgt wird (Dahl & Fábregas 2018); cf. (3a). Oder man postuliert, dass bestimmte Elemente nicht nur einen Slot, sondern grö­ßere Teilstrukturen realisieren (cf. (3b); spanning, kumulative Exponenz etc.). Oder man nimmt an, dass das morpho-syntaktische Merkmal [Plural] vor der Einsetzung des morpho-phonologischen Materials gelöscht wird (cf. (3c); impoverishment). Mit an­de­ren Worten, Null kann die Folge einer PF-Operation der Löschung phonetischen Ma­terials, einer postsyntaktischen, morphologischen Operation der Löschung von Merk­malen (Bo­net 1991) oder der fehlenden Projektion von Merkmalen (cf. Dahl & Fábre­gas 2018; Trommer 2012) sein. Es mangelt also nicht an alternativen Analysen, die ohne Null aus­kommen; vielmehr muss man objektive Argumente aufführen, die zeigen, welche dieser Alter­nativen die bessere ist.

(3)
a.  lunes-sPL + anschließende Anpassungs-/Tilgungsregel
b.  lunes ↔ [[[√ ] WM] PL]
c. [[√ ] PL] → [[√]]

Die Frage nach der (empirischen) Motivation gestaltet sich häufig als komplex, da durch das Fehlen phonetischen Materials keine direkte, sondern nur indirekte Evidenz für bzw. gegen Nullelemente möglich ist. Nach welchen Prinzipien entscheidet man, wann Null als Beschreibungselement (nicht) legitim ist (cf. u.a. Nida 1948; Mel′čuk 2002)? Dies­be­züglich erwähnt Pöll (in Pomino & Pöll 2022) die Notwendigkeit, dass Null immer dann ver­mieden werden sollte, wenn ein ungleiches Verhalten von einem potentiellen Null­ele­ment und dem entsprechenden overten Gegenstück besteht. Er beobachtet, dass das Suf­fix derivierter Verben Einfluss auf die Suffix-Selektion bei einer anschließenden No­mi­nalisierung haben kann: Verben auf sp. –ecer favorisieren Nominalisierungen mit ‑miento (z.B. favorecimiento), während Verben auf –ific-a-r No­mi­­nalisierungen mit –ción be­vorzugen (z.B. planificación). Etwaige mit einem Null­allo­morph derivierte Verben zei­gen diese Affinität hingegen nicht, z.B. razon-Ø-a-r > razo­na­miento und limit-Ø-a-r > limi­­tación. Wenn die Nullelemente keinen Einfluss auf die Suffix-Selektion haben, dann sind sie ggf. gar nicht vorhanden. Oder handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Null­allomorphe, eines zu –ec– und ein anderes zu –ific-?

Die Präsenz von Null ist also nicht nur stark theorieabhängig, es fehlt oftmals auch empi­rische Evidenz für bzw. gegen die Annahme von Null. Ziel dieser Sektion ist es, Lin­guis­t:innen unterschiedlicher theoretischer Ansätze und Methodiken zusammen­zu­bringen, die für bzw. gegen Nullelemente argumentieren. Sie möchte die empirische und theore­tische Notwendigkeit der Annahme von Nullelementen in Syntax und Mor­phologie an­hand der romanischen Sprachen und Varietäten beleuchten und neue Erkenntnisse be­züglich eines kontrovers diskutierten Konstrukts in verschiedenen Grammatiktheorien erzielen. Der Fokus der Beiträge soll auf einen der folgenden Fragen­komplexe liegen:

  • Welche Evidenz finden wir für bzw. gegen Nullelemente in der linguistischen Analyse?
  • Welche Einblicke können uns romanische Sprachen und Varietäten in die Theorie von Nullelementen bieten?
  • Welche Einblicke ermöglicht eine sprachvergleichende und/oder eine sprachhistorische Perspektive von Nullelementen?
  • Wie wird Null in Morphologie und/oder Syntax von L1- und L2-SprecherInnen erworben?
  • Handelt es sich (a) in der Morphologie und Syntax oder (b) in der Derivation und Flexion um ähnliche oder unterschiedliche Nullelemente?
  • Welche alternative Analysemöglichkeiten zu leeren Kategorien gibt es? Wie wird Null in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen behandelt?
  • Wie viele Arten von Nullelementen gibt es in Morphologie und/oder Syntax, und worin unterscheiden sie sich?

Empirische Studien zu Null aus romanistischer Perspektive, die Daten aus weniger er­­forschten Varietäten diskutieren, sowie Studien zum Spracherwerb und korpusba­sierte Ansätze sind besonders willkommen.

Bibliographie

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