Sektion 5

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Ursachen und Wirkungen von Salienz in Variation, Kontakt und Wandel

Haus 1, Raum T-1004 (Kellergeschoss im Turm) | Building 1, Room T-1004 (tower, basement level)

Sektionsleitung und Kontakt:
Barbara Schirakowski (FU Berlin), E-Mail: barbara.schirakowski@fu-berlin.de
Anne Wolfsgruber (HU Berlin), E-Mail: anne.wolfsgruber@hu-berlin.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel

Abstracts
Zeitplan

Salienz ist ein viel bemühtes Konzept, das nicht nur in zahlreichen Teildisziplinen der Sprachwissenschaft, sondern auch in vielen allgemein an Kognition interessierten Dis­zi­plinen Anwendung findet. In der Linguistik wird Salienz u.a. in Arbeiten zu Sprach­wandel, Sprachkontakt, Spracherwerb und Variation thematisiert. Im weitesten Sinn lässt sich Salienz als die besondere Auffälligkeit oder Prominenz eines Merkmals (im Ver­gleich zu anderen) definieren. Allerdings gibt es keinen allgemein anerkannten Kon­sens darüber, was genau unter Salienz zu verstehen ist, welche Arten von Salienz – etwa kognitive, perzeptuelle oder soziolinguistische – unterschieden werden müssen und welchen Er­klä­rungswert Salienz zur Ergründung bestimmter sprachlicher Phäno­mene beiträgt. Po­ten­ziell problematisch ist auch, dass der Salienzbegriff in vielen Stu­dien ohne Definition verwendet wird. Sind Definitionen vorhanden, lässt sich mitunter Zirkularität beobachten oder auch der Rückgriff auf Begriffe wie (Un)Erwartetheit oder Markiertheit, die ihrer­seits Herausforderungen bergen (vgl. Boswijk & Coler 2020; Kerswill & Williams 2002; Rácz 2013; zu Markiertheit z.B. Haspelmath 2006).

Vor diesem Hintergrund erscheint es wünschenswert, Konzeptualisierungen von Salienz genauer zu hinterfragen und dabei, wie es z.B. Auer (2014) vorschlägt, klar zwischen Ur­sachen und Wirkungen von Salienz zu unterscheiden. In der Regel wird Salienz als ein auf Hörer:innen bezogenes Konzept beschrieben. Unter dieser Sicht­weise sind Elemente nicht intrinsisch salient, sondern werden als salient wahrge­nommen, wobei die Wahr­neh­mung ein überindividuelles Phänomen darstellt, also in der Regel von einer Gruppe von Sprecher:innen geteilt wird. Ursachen dafür, dass ein Merkmal als salient wahr­ge­nommen wird, können z.B. Phonemstatus, hohe oder nied­rige Frequenz oder auch geo­graphische Reichweite sein. Wirkungen von Salienz zei­gen sich etwa in Akkommodation und im Sprachwandel.

Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Salienz auch durch mehrere Ursachen be­dingt sein kann. Studien zeigen, dass stärker grammatikalisiertes (morpho-)syn­tak­tisches Ma­te­rial tendenziell als weniger salient wahrgenommen wird, weil es bedingt durch hohe Fre­­quenz und entrenchment an phonologischem Gewicht und Material verliert, durch Betonung nicht hervorgehoben werden kann und auch die Gestik an diesen Stellen nicht (mehr) zur Verstärkung eingesetzt wird. Betonte Elemente gehören oft den offenen Klas­sen an und stellen in der Regel lexikalisches Material dar, von dem bekannt ist, dass es anders erworben und verarbeitet wird als gramma­ti­ka­lisierteres Material (vgl. Ellis 2017; Friederici 1982). Ein interessantes Beispiel kommt hierbei aus der Klasse der Präpo­si­tionen. Während die hoch grammatikalisierten Prä­po­sitionen bzw. Komplementierer à und de in den französischbasierten Kreolsprachen weitgehend getilgt wurden, hat die lexikalische Präposition pour nicht nur weiter Be­stand (pou), sondern hat sich auch wesentlich weiterentwickelt und fungiert als Kom­ple­mentierer, Irrealis-, Modalitäts- und Futurmarker (vgl. Syea 2017).

Geringe Salienz ist jedoch nicht zwingend die Folge von hoher Frequenz, sondern kann sich auch aus niedriger Vorkommenshäufigkeit ergeben. Dieser Zusammenhang ist in zahlreichen Arbeiten zu Ereignisversprachlichung insbesondere anhand von Be­we­gungs­ereignissen und der semantisch-konzeptuellen Komponente manner ‘(Be­we­gungs-)Art’ untersucht worden (vgl. z.B. Aurnague & Stosic 2019; Stosic 2009 zum Fran­zösischen). So wird Talmys typologische Unterscheidung zwischen verb-framed-Sprachen, zu denen die romanischen Sprachen (überwiegend) zählen, und satellite-framed-Sprachen oft auch als ein Kontinuum von manner-Salienz erfasst (vgl. Slobin 2006). Den romanischen Sprachen wird üblicherweise eine niedrige manner-Salienz zu­gesprochen, da sie im Vergleich zu ty­pischen satellite-framed-Sprachen über klei­nere Inventare an manner-Verben verfügen und manner-Verben nur begrenzt mit Ziel­an­gaben kombinieren können. Studien, die auf Slobins (1987) thinking-for-speaking-Theorie basieren, zeigen, dass Sprecher:innen ro­ma­­nischer Sprachen der lexikalische Zugriff auf manner-Verben vergleichsweise schwer­fällt und sie manner seltener lexika­li­sieren als Sprecher:innen typischer satellite-framed-Sprachen (vgl. u.a. Cardini 2008 zum Italienischen; Slobin 1996 zum Spanischen). Ver­än­de­rungen lassen sich in Situa­tio­nen beobachten, in denen manner kontextuell bedingt be­sonders salient wird (vgl. Feist, Rojo López & Cifuentes Férez 2007) oder in denen enger Kon­takt zu satellite-framed-Sprachen besteht, denen eine hohe manner-Salienz at­testiert wird (vgl. z.B. Goldschmitt 2012 zu Spanisch und Aymara in Bolivien; Stocker & Berthele 2020 zu Französisch und Deutsch in der Schweiz).

Auch im Hinblick auf semantische und diskurspragmatische Faktoren, welche die kli­ti­sche Verdoppelung und/oder differentielle Objektmarkierung (DOM) in zahlreichen ro­ma­nischen Varietäten bedingen, spielt Salienz eine zentrale Rolle. So ist bekannt, dass besonders saliente Argumente bzw. solche, die einen salienten Referenten haben, eher eine besondere Markierung erhalten als Argumente, die niedrig salient sind. Eigen­schaften, die mit hoher Salienz einhergehen, sind etwa Belebtheit, Definit­heit, Spezifizität, Af­fiziertheit und Topikalität. Das komplexe Zusammenspiel die­ser und weiterer Faktoren ist Gegenstand umfangreicher Forschung (für neuere Stu­dien zu DOM vgl. u.a. von Heusin­ger & Kaiser 2011; Kabatek, Obrist & Wall 2021; zur kli­ti­schen Ver­doppelung Fischer & Rinke 2013; Rinke, Wieprecht & Elsig 2019; zu beiden Phänomenen Leonetti 2008; Fischer & Navarro 2016). Dabei stellt sich stets die Frage, ob Salienz die Ursache für dif­fe­rentielle Argumentmarkierung darstellt und/oder ob ein Argument in Folge seiner spe­ziellen Markierung als besonders salient wahrgenommen wird. In Bezug auf die zweite Mög­lichkeit ist auch perzeptuelle Salienz von Belang. Für DOM ist z.B. gezeigt worden, dass die rumänische Markierung pe, die über eine CV-Struktur verfügt, von Her­kunfts­sprecher:innen des Rumänischen eher beibehalten wird als sp. a von Her­kunftspre­cher:innen des Spanischen, insbesondere, wenn a einem Verb in der 3. Sg. folgt wie in Llama (a) Pedro (vgl. Montrul & Bateman 2020).

Fragen, die in der Sektion thematisiert werden sollen, sind beispielsweise folgende:

  • Welche Konzeptualisierungen von Salienz sind notwendig, um die o.g. und andere in den romanischen Sprachen einschlägige Phänomene adäquat zu beschreiben und zu erklären, und inwieweit ist Salienz überhaupt ein Konzept mit explanatorischer Kraft?
  • In welchem Verhältnis steht Salienz zu Frequenz? Wann korreliert Salienz mit hoher, wann mit niedriger Frequenz?
  • In welchen Konstellationen kann Salienz als Ursache für ein bestimmtes Phänomen angesehen werden, und in welchen Szenarien stellt Salienz die Folge einer Erscheinung dar?
  • Wie lassen sich Konzeptualisierungen von Salienz operationalisieren? Mit welchen empirischen Methoden kann welche Art von Salienz gemessen werden? Wofür können insb. korpusbasierte und experimentelle Ansätze (sowohl Produktions- als auch Perzeptionsstudien) sinnvoll eingesetzt werden?

Das Ziel der Sektion besteht darin, Arbeiten unterschiedlicher theoretischer und empi­rischer Ausrichtung zusammenzubringen, die sich mit den Ursachen und Wirkungen von Salienz anhand von Fallbeispielen aus den romanischen Sprachen befassen. For­schungsfelder, die im Rahmen der Sektion thematisiert werden sollen, umfassen u.a. Konstituentenabfolgen, Argumentmarkierung und Lexikalisierungs­muster. Dabei sol­len klare Definitionen von Salienz herausgearbeitet und ihre Relevanz für die unter­suchten Forschungsfelder kritisch reflektiert werden. Angestrebt wird zudem ein Aus­tausch über methodische Vorgehensweisen zur Untersuchung von Salienz.

Bibliographie

Auer, Peter 2014. Anmerkungen zum Salienzbegriff in der Soziolinguistik. Linguistik Online, 66(4).

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Boswijk, Vincent & Matt Coler. 2020. What is salience? Open Linguistics 6(1), 713-722.

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Feist, Michele, Ana Rojo López & Paula Cifuentes Férez. 2007. Salience and acceptability in Spanish manner verbs: A preliminary view. International Journal of English Studies 7(1), 137-148.

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